Der wissenschaftliche Rang dieses Buches liegt aber darin, daß Chastel den Versuch unternimmt, die weit verstreuten Originalmanuskripte Leonardos (1452-1519) methodisch neu zu sichten, sie zu kommentieren und ihren authentischen Zusammenhang zu rekonstruieren. Denn die Fülle der ursprünglich losen Blätter wurde nach dem Tod des Renaissancemeisters durch seinen frühen Nachruhm zu einem weit verstreuten Handelsobjekt. Auch der sogenannte Codex Urbinas, das lange als "Traktat über die Malerei" bekannte Buch, war ebenfalls nur eine Zusammenstellung einzelner Blätter durch Leonardos Nachlaßverwalter Francesco Melzi. Daher bildet Chastels Bearbeitung und kritische Diskussion der Schriften eine neue Arbeitsgrundlage, die eine veränderte Perspektive auf das Denken Leonardos erlaubt. Chastel stellt darüber hinaus die Skripten den Skizzen und sämtlichen Gemälden Leonardos gegenüber, wodurch sich die Anschaulichkeit der theoretischen Gedanken erhöht.

In seinem ausführlichen Vorwort und einer mehrteiligen Einführung klärt Chastel über die äußerst komplexe Forschungslage, die Quellensituation sowie über die Vita des Genies auf, bevor er die Teile des unvollendeten Traktats in einen kritischen Zusammenhang stellt. Konkordanz, Zeittafel und Index schließen das kunstwissenschaftlich grundlegende Buch ab. Der verlegerisch sehr gut und ästhetisch adäquat betreute Band wird zudem von brillanten Farbtafeln eröffnet, die sich ideal mit den graphischen Abbildungen im Text ergänzen. So kann Chastels Ausgabe von Leonardos Schriften und Werken getrost als maßstäbliche Publikation bezeichnet werden, die Bestand haben wird. --Ernst Seidl
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