Näheren Aufschluss über den Antagonismus zwischen islamischem und vielfach tatsächlich praktiziertem traditionellen Recht erhält man in dem Handbuch Recht und Kultur des Islams in der deutschen Gesellschaft der beiden Islamwissenschaftler Adel Theodor Khoury und Peter Heine sowie des Juristen Janbernd Oebbecke. Das Buch ist gedacht als Leitfaden und Ratgeber sowohl für die Muslime selbst, die es über ihre Pflichten und Freiheiten hinsichtlich des islamischen Rechts unterrichten soll, als auch für Nicht-Muslime, die in den verschiedensten Bereichen des alltäglichen und öffentlichen Lebens mit muslimischen Mitbürgern in Deutschland in Kontakt kommen. Nach einer Einführung in die Grundzüge des Islams, die religiösen Grundpflichten des Muslims und die religiöse Rechtsprechung, die Scharia, deren Hauptquellen das koranische Gesetz und die Prophetentradition, die Sunna, sind, wird ein Einblick in das Rechtssystem der islamischen Welt gewährt. So versteht sich der Islam als Religion und Staat, um sämtliche Bereiche des Lebens zu erfassen und den gesetzlichen Rahmen dafür festzulegen. Die anschließende Analyse der rechtlichen Situation in der gegenwärtigen islamischen Welt offenbart deren verwirrende Vielfältigkeit. Nicht nur, dass es im sunnitischen Islam vier verschiedene, sich aber zumindest gegenseitig anerkennende Rechtsschulen gibt, es existieren zusätzlich noch drei große konkurrierende Rechtssysteme, die teilweise parallel nebeneinander praktiziert werden: das westlich beeinflusste, säkulare Recht, das islamische Recht und das traditionelle beziehungsweise das Gewohnheitsrecht. Darüber hinaus muss auch die gesonderte Rechtsschule der Schiiten berücksichtigt werden, die sich in einer nicht unerheblichen Anzahl von Rechtsfragen von denjenigen der Sunniten unterscheidet. Gegenstand der hier aufgeführten Untersuchungen und der rechtlich oftmals auseinander gehenden Positionen der islamischen Rechtsgelehrten sind die Bereiche Familie und Ehe, Themen des Alltags wie Speisevorschriften und Kleiderordnung, Wirtschafts- und Finanzrecht, medizinische Ethik, Strafrecht sowie das Zusammenleben von Muslimen mit Nicht-Muslimen sowohl in islamischen Ländern als auch im nicht-islamischen Ausland. Die bei diesen Analysen gewonnene Erkenntnis ist, dass sich das islamische Recht in vielen Fällen als wesentlich toleranter und flexibler erweist als die gesellschaftliche und rechtliche Praxis und die Lebenswirklichkeit der islamischen Welt. Im Falle, dass sich die drei verschiedenen Rechtssysteme widersprechen, setzt sich letztlich vorzugsweise das regional gefärbte traditionelle Recht durch. In zahlreichen Streitfällen werden lokale Traditionen oder vorislamische Rechtsvorstellungen dann einfach als islamische Vorschriften hingestellt. Abgesehen davon manifestiert sich gegenwärtig hinsichtlich einiger der angesprochenen Darlegungen eine gewisse Unsicherheit unter den islamischen Rechtsgelehrten und gläubigen Muslimen, die nicht zuletzt auf die modernen technischen und wissenschaftlichen Erkenntnisse und Entwicklungen zurückzuführen ist. Das letzte Kapitel widmet sich der Konfrontation des deutschen Rechts mit unterschiedlichen, speziell muslimische Anliegen betreffenden Problemen. Der Jurist Oebbecke beschreibt den bis dato aktuellen Stand der deutschen Gerichtsentscheidungen zu konkreten Problemen und Streitfällen mit Muslimen. Wie er selbst zugibt, liegt aber Rechtsprechung bisher erst zu einigen Fragen vor, während ein Großteil dieser Fragen noch unzureichend oder gar nicht gelöst ist, da deren wissenschaftliche Aufarbeitung noch am Anfang steht. Zusätzlich erschwerend bei dieser Aufgabe wirkt sich die Pluralität innerhalb des Islams aus, denn die in Deutschland lebenden Muslime haben je nach ihrer Herkunft auch unterschiedliche Rechtsvorstellungen. Dadurch dass nur das letzte Kapitel speziell auf rechtliche Stellungnahmen in Deutschland und die Situation der hier lebenden Muslime eingeht, erscheint der Buchtitel ein wenig irreführend. Denn alle anderen dargelegten Urteile und Positionen besitzen nicht nur für in Deutschland lebende, sondern auch für alle übrigen Muslime Gültigkeit. Wiederum angesichts des Titels und in Anbetracht der Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der in Deutschland lebenden Muslime türkischsprachig ist, wäre es sicherlich angebracht gewesen, im beigefügten Glossar neben den arabischen Begriffen auch ihre türkischen Entsprechungen aufzuführen. Ein weiterer Kritikpunkt wäre das Fehlen eines Gesamtliteraturverzeichnisses am Ende des Buches. Insgesamt betrachtet bietet das Buch in überschaubar eingeteilten Kapiteln eine detaillierte und sachliche Einführung in die islamische Alltagskultur und Rechtsprechung sowie die Probleme der deutschen Rechtsprechung hinsichtlich muslimischer Fragestellungen. Positiv zu bewerten ist auch das Bestreben der Autoren, die Auslöser und Hintergründe von kulturellen Missverständnissen auszuleuchten und somit Vorurteile abzubauen. --Susan Radwan Quelle:
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