Zweimal hatte der Autor sie bereits gesehen. Im Dezember 1991 durfte er zum ersten Mal den Kumari Bahal, den Wohnsitz der "lebenden Göttin" in Kathmandu betreten. Ein kurzer Blick auf die damals dreijährige "Amtsträgerin" wurde ihm bewilligt. Neun Jahre später kehrte Gerhard Haase-Hindenberg nach Nepal zurück. Im Rahmen einer "Puja", eines Opfergottesdienstes, wurde er Zeuge eines magischen Auftritts der mittlerweile 12-jährigen in vollem Ornat. Dem betörenden Anblick dieser "heiligen Femme fatale", ihrem dritten Auge auf der Stirn, den grellroten Lippen, märchenhaften Gewändern und dem bis zur Schläfe gezogenen Kajalstrich, konnte sich auch der Autor nicht entziehen. Es entstand der Bericht aus einer fernen und fremden Kultur. War dieser fast 16-jährige Teenager Amita, der ihm jetzt in Jeans und T-Shirt mürrisch schweigend gegenübersaß, wirklich die ehemalige legendäre Mädchengöttin? Und würde sie, abgeschottet hinter Palastmauern großgeworden und nicht eben mit westlichen Kommunikationsformen vertraut, überhaupt mit dem fremden Journalisten sprechen? Nachdem der wachsame Vater entfernt werden konnte, brach sie ihr Schweigen. Am Tag vor ihrem dritten Geburtstag hatten ihre Eltern die künftige Kumari in den Palast gebracht. Königliche Astrologen hatten in ihr (ein Ritual, nicht unähnlich dem Auffinden des nächsten Dalai Lama), die Inkarnation Talejus, der Schutzgöttin Nepals ausgemacht. Das Märchen hinter vergitterten Fenstern begann. Es sollte tragisch enden! Von einer normalen Kindheit keine Spur. Rituelle Handlungen und Einsamkeit bestimmten den Alltag. Lediglich an hohen Feiertagen verließ die Kumari den Tempel, um als verehrte Prozessionsstatue in den Straßen ihren Segen zu spenden. In langen, separaten Interviewsitzungen mit Amita, ihren Eltern, sowie hochrangigen Priestern, erschließt sich Haase-Hindenberg langsam eine hochkomplexe Glaubenswelt; sogar die bislang geheimen tantrischen Riten des Kumari-Kults werden ihm nahegebracht. Nach zehn Jahren "Göttin auf Zeit" dann der Schock. 2001 gingen die Schlagzeilen um die Welt: Massaker im nepalesischen Königspalast! Die gesamte königliche Familie kam im Kugelhagel ums Leben! Das Land gelähmt! Für die Schutzgöttin des Königs begann eine gefährliche Zeit. Noch gefährlicher könnte für Amita Shakya nur die Rückkehr ins wirkliche Leben werden.–-Ravi Unger . Quelle:
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