Es gibt nur wenige erste Sätze, die so genau die Atmosphäre eines ganzen Romans umreißen können wie der in Julien Greens mit 27 Jahren geschiebenem Roman Adrienne Mesurat, der die Titelheldin gekonnt in den dunklen Schatten ihrer geisterhaften Verwandten stellt. "Aufrecht, die Hände auf dem Rücken, stand Adrienne da und betrachtete den Friedhof", kann man da lesen: "So hieß bei den Mesurats eine Gruppe von zwölf Porträts, die im Eßzimmer über einer Anrichte hingen, so dicht beieinander, daß sie die ganze Wand bedeckten". Wie eine Regieanweisung hört sich das an, und tatsächlich: Eine Tragödie hat der junge Green 1927 mit seinem Buch geschrieben. Wie die zwölf Geschworenen an der Wand, so lauert auch überall das Schicksal auf Adrienne in Gestalt ihrer Familie und sitzt über sie zu Gericht: allen voran der greise Vater, ein ehemaliger Lehrer, der die Protagonistin nach dem Tod ihrer Mutter in der französischen Provinz auf erniedrigendste Art und Weise quält. Nach einer verhinderten Liebe, von der gar nicht sicher ist, ob es je Liebe war, und nach der Flucht der Schwester ins großstädtische Paris wird die Belastung zu groß für die junge Frau: Sie stößt den Vater die Treppe herunter. Doch mit dem Akt der Befreiung fängt das Leid erst an. "Namenloses Entsetzen belauerte sie", heißt es im Roman, "wartete auf den Augenblick, in dem sie sich plötzlich ergeben, im Dunklen schreien würde, vom Grauen der Finsternis besiegt". Aber Adrienne schreit nicht in Greens frühem Meisterwerk: Zu unsagbar ist das Grauen, das ihr wiederfährt. Und so lässt der Autor seine Heldin am Ende unbehaust durch die Gassen irren, ihren Namen vergessen und ihre Wohnung. Melodiös ist einzig die Sprache des personalen Erzählers. Siegfried Kracauer pries das Buch denn auch als "Totengesang der alten bürgerlichen Welt", als "eines der allerbesten Bücher dieses Jahrhunderts". Greens Sprache, schrieb Kracauer damals, sei "lautlos, damit die Geisterrede hörbar werde. Sie umkleidet nichts, sondern weckt die Gegenstände, die dann aufschauen". Der begnadete Schauspieler und grandiose Hörbuchinterpret Udo Samel hat nun den einsamen Geistern aus Greens Roman eine traurige Stimme gegeben: Besser kann man Adrienne Mesurat kaum lesen. --Thomas Köster Quelle:
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