Utopie, das schöne Wort vom Nirgend-Ort, hat am Ende dieses Jahrhunderts seinen Zauberklang verloren. Die Welt ist vermessen, der Bericht von einem unentdeckten Ort, an dem sich besser leben läßt, müßte heute aus dem Weltall zu uns dringen, um wenigstens minimale Chancen auf Glaubwürdigkeit zu haben. In dieser Hinsicht hatte es der Londoner Rechtsgelehrte Thomas More vor fast 500 Jahren einfacher. Amerikas Entdeckung lag 24 Jahre zurück, da schrieb er einen Bericht über ein Gespräch mit einem Seefahrer, der ein Land gesehen haben wollte, in dem "Menschen in vernünftig und weise geordneten Verhältnissen" leben. Wenn das keine Entdeckung war! Utopia nannte More dieses Land, wobei er die griechische Vorsilbe für "schön" zum gleichklingenden englischen "U" verkürzt. Höchstes Ziel der Utopier: das Glück. Billigstes Mittel: die Lust. Also "jeder Zustand des Körpers oder der Seele, in dem zu leben ein Genuß ist und zu dem die Natur uns den Weg wies". Sie verachten Gold und Edelsteine, Grausamkeiten an Mensch und Tier, und die wenigen Gesetze sind derart klar bestimmt, daß jeder sie versteht. Das Gemeinwohl steht den Utopiern über alles. Sicher, in diesem Buch steckt eine erhabene Anleitung des öffentlichen Lebens, die mit unserer gesellschaftlichen, politischen und ethischen Realität sowenig zu tun hat wie mit der Aussicht auf ihre Verwirklichung. Möglicherweise aber täuschen wir uns, wenn wir annehmen, das wäre damals anders gewesen. Neben Machiavellis Handbuch für den modernen Machtmenschen, Der Fürst, das zur selben Zeit geschrieben wurde, erscheint Morus' Plädoyer für das Utopische schon zur Wiegenstunde dieser geistesgeschichtlichen Kategorie altmodisch. Grund genug, dieses so wirkungsvoll wirkungslose Buch auch heute immer noch Ernst zu nehmen. --Nikolaus Stemmer Quelle:
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