Es ist eine gute Weile her, daß ich Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft (1790) gelesen habe. Beim neuerlichen Reinschauen aber erfaßt mich wieder der Wortstrudel der Kantschen Syntax und Begrifflichkeiten, der das Hirn nach nur wenigen Sätzen seiner linguistischen Funktionalität zu berauben scheint. Spätestens beim ersten Umblättern stellt sich jenes Aha-Gefühl ein, das einen sonst nur beim Anblick asiatischer Sprachsysteme befällt, beim Lesen eines deutschen Textes aber an den Rand des Wahnsinn bringen kann. Wer nun gleich aufgibt, erspart sich zwar eine Menge Lesearbeit, beraubt sich zugleich aber einer ungemein spannenden Lektüreerfahrung. Kant begreifen heißt, sich auf seine Sprache einlassen. So nähert man sich fast zwangsläufig einer zentralen Idee dieser dritten großen kritischen Schrift. Denn, sagt Kant, das Wesen des Geschmacks liegt darin, daß er ohne das Interesse am Objekt des Urteils auskommt. Ästhetisches Urteilen ist interesseloses Wohlgefallen (oder Mißfallen), der Zweck bleibt außen vor. Will heißen: Die Bewertung der Qualität der "Kritik der Urteilskraft" steht vollkommen außerhalb der Frage, ob die Quälerei irgendetwas bringt. Schließlich lasse sich über das Erhabene und Schöne nicht streiten, "und sofern kann man nicht sagen: Ein jeder hat seinen besonderen Geschmack". Das große Rätsel dieses Werks bleibt das Paradox zwischen allem Anfang Ästhetischen Empfindens im Subjektiven und einem "Gemeinsinn", der es einem erlaubt, das eigene Schönheitsempfinden mit anderen zu teilen. Und die Einsicht in dieses seltsame Verhältnis sorgt für die intellektuelle Lust, die einem diese Erkenntnis (und jede andere etwas komplizierte auch) vermitteln kann. Fragen Sie nicht, was es bringt. Lesen und urteilen Sie! --Harald Stucke Quelle:
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