Marian Anderson war eine der eindruckvollsten Sängerinnen ihrer Zeit. In den 30er-Jahren wurde die amerikanische Künstlerin in vielen europäischen Konzertsälen gefeiert, Dirigenten und Komponisten wie Sibelius oder Toscanini priesen ihre Stimme als Jahrhundertbegabung. In ihrer Heimat jedoch war die Bewunderung nicht so einhellig, denn Marian Anderson war schwarz. Als man ihr 1939 den Auftritt in einer der besten Konzerthallen Washingtons, der Constitution Hall, versagte, intervenierte Amerikas First Lady Eleanor Roosevelt. Mit ihrer Unterstützung arrangierte man ein Freiluftkonzert der Sängerin vor dem Lincoln Memorial, das von 75.000 Zuschauern besucht wurde -- ein Ereignis von hohem symbolischem Wert, das allerdings wenig am bestehenden Rassismus des weißen gegenüber dem schwarzen Amerika änderte. In Richard Powers grandiosem Roman Der Klang der Zeit ist das legendäre Konzert eine wichtige Schlüsselszene. Nicht nur treffen sich hier die Eltern der Hauptfiguren zum ersten Mal und finden über ihre Liebe zur Musik zueinander, der Gegensatz zwischen trennendem Rassismus und versöhnender Kunst, unter der Marian Anderson zu leiden hatte, wirft von Beginn an auch einen bedrohlichen Schatten auf die Beziehung zwischen dem deutsch-jüdischen Emigranten David Strom und der Afroamerikanerin Delia Daley. Auch wenn David und Delia alles tun, um ihre drei Kinder vor dieser Bedrohung zu schützen, erweist sich die destruktive Kraft rassistischer Vorurteile letztlich stärker als die Kraft der Musik, aus unterschiedlichen Stimmen harmonische Kompositionen zu formen. Am Ende zerbricht die Familie und die Musik, die durch die Geschichte weht, wird zum Abgesang auf eine Utopie: die Überwindung des Rassismus durch den Einklang von Schwarz und Weiß. Der Klang der Zeit ist selbst durch den Versuch bestimmt, aus Gegensätzen Harmonie zu erzeugen, wenn auch eine fragile. Der Roman verwebt die Geschichte der Musikerfamilie Strom mit der Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft zwischen den 20er-Jahren und den Rassenunruhen im Los Angeles der 90er, zugleich aber verbindet der Roman auch die Denkwelten der Physik mit den Kunstwelten der Musik. Wie auch in seinen anderen Romanen, z.B. Schattenflucht und Galathea 2.2 betrachtet Powers Kunst und Wissenschaft nicht als Widersprüche, sondern als gegenseitig erhellende Versuche des Menschen, sich selbst und seine Welt zu verstehen und zu verändern. Die Melancholie des Abgesangs, die deutlich im Roman zu spüren ist, mag gerade darin liegen, dass weder Wissenschaft noch Kunst den Rassismus aus der Welt schaffen konnten. Das kann natürlich auch Powers nicht, und doch ist Der Klang der Zeit gerade deshalb ein sehr mutiges Buch, das ein Ideal zu verteidigen versucht, ohne die Realität leugnen zu wollen. --Peter Schneck Quelle:
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