Ein Klassiker hat Konkurrenz bekommen. War François Truffauts Standardwerk, das legendäre Interview-Marathon Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?, bislang die anerkannte Bibel unter Cineasten, so darf man Georg Seeßlens mächtige Scorsese-Werkschau getrost an seine Seite stellen. Detaillierter und kenntnisreicher hat das filmische Gesamtwerk und die Bildersprache des legendären Regisseurs bislang noch niemand unter die Lupe genommen. Nach einer kurzen aber klugen Einleitung über Werdegang und Philosophie des italo-amerikanischen Regisseurs, kommt Seeßlen zur Hauptsache: Auf annähernd 600 beeindruckenden Seiten wird das gesamte filmische Werk Scorseses seziert. Immer wieder auftauchende filmische Ikonografien werden einander gegenübergestellt (der Blick in den Spiegel, der das wahre Gesicht des Helden entlarvt; die in fast allen Werken auftauchenden Sakralbauten, Scorseses viel besungenem Katholizismus wird ein besonderes Augenmerk gewidmet); die Bedeutung des Blutes, das bei dem Meister überreichlich fließt; schließlich die in Unschuld badenden Hände dessen, der Schuld auf sich geladen hat. Taxi Driver, Wie ein wilder Stier, Casino, Kap der Angst und, als jüngstes Werk, Gangs of New York, nur einige Titel aus einem ungeheuren Œuvre, aber wer kennt sie nicht? Trotz unterschiedlichster Genres sind Scorsese-Filme im Grunde jedoch nur Variationen eines Themas: Ausnahmslos allen wohnt inne, dass ihre Helden jemand anderes werden wollen, als sie sind, nur um sich nach ihrem Auf- oder Ausstieg in noch schlimmeren Abhängigkeiten wiederzufinden (dies gilt sogar für Jesus in dem umstrittenen Film Die letzte Versuchung Christi, in dem der Heiland ein bürgerliches Leben dem Kreuzestod vorzieht). Ein akribischer und umfangreicher Anhang mit allen Schauspielern und Technikern macht dieses kiloschwere Nachschlagewerk endgültig komplett. Wir feiern ein Wiedersehen mit Harvey Keitel, Nick Nolte -- und an erster Stelle natürlich Robert De Niro -- Namen, die Scorseses Filmen von Anfang an ihren Stempel aufgedrückt haben und umgekehrt. Gewiss nicht wenige Leser werden bei der nächsten Ausstrahlung eines Scorsese-Films dieses reich bebilderte Kompendium als Referenz zur Hand nehmen. Danach wird man ihn anders sehen. Ein Filmbuch zum Niederknien! --Ravi Unger Quelle:
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