Die Nachrufe auf Rainer Werner Fassbinder nach seinem plötzlichem Tod 1982 kreisten, sofern sie sich nicht mit seinem exzessiven Lebenswandel beschäftigten, im wesentlichen um zwei Einschätzungen: Mit seinem Tod sei auch der "Neue Deutsche Film" erledigt, und die westdeutsche Gesellschaft verliere mit ihm ihren scharfsinnigsten und leidenschaftlichsten Chronisten, gewissermaßen ihren Balzac. In seiner Gesamtschau des Fassbinderschen Oeuvres setzt Thomas Elsaesser den Schwerpunkt weniger auf das Leben des produktivsten aller Autorenfilmer, sondern auf die Bedeutung, die sein Werk für die Geschichte und Kultur der Nachkriegszeit hat. Anders als seine amerikanischen filmwissenschaftlichen Kollegen legt er Fassbinder nicht auf die Couch und hält sich auch nicht lang auf mit der Saga der Fassbinder-"Familie" und all ihren Enthüllungen und Eifersüchteleien. Elsaessers Buch liegt als überarbeitete Übersetzung vor. Die englische Originalfassung gilt als Standardwerk -- nicht zuletzt wegen der sehr umfangreichen Bibliografie und der kommentierten Filmografie. Der Originaltitel Fassbinder's Germany. History, Identity, Subject verrät das ursprüngliche Interesse dieses hermeneutischen Unternehmens. Zum einen bietet Elsaesser eine Einführung in die bundesdeutsche Kulturgeschichte, um den gesellschaftspolitischen Grund für Fassbinders Filme zu rekonstruieren und seine Abgrenzung gegenüber einer spezifisch linken Perspektive des Kulturschaffens zu beschreiben. So verzichte Fassbinder beispielsweise mit der Verlagerung der Konfliktbeschreibung auf die Binnenperspektive seiner Figuren auf den denunzierenden Blick vorherrschender linker Identitätspolitik. Zum anderen beschreibt Elsaesser Fassbinder als "Verführer zur Filmerfahrung", indem er dessen psychologische Verführungstechniken genau charakterisiert. Diese Beschreibung einer Blicklenkung und die Analyse der Wechselwirkung zwischen Publikum und Autor-Erzähler sind die Stärken von Elsaessers Fassbinder-Studie. Kaum ein anderer Filmemacher hatte ein derartiges "Gespür dafür, was es für Männer und Frauen bedeutet, für einander als Bilder zu existieren". Nicht zuletzt wegen der Fülle an Bildmaterial ist Elsaessers Buch unverzichtbar für alle Fassbinderfans, die diesen "Verführer" neu entdecken wollen. --Marcus Welsch Quelle:
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