Im Mittelpunkt dieser Geschichte aus dem Jahr 1928 steht Agnes Pollinger, eine arbeitslose Schneiderin, die bei ihrer Tante in der Schellingstraße in München wohnt. Vor dem Arbeitsamt lernt sie Eugen Reithofer aus Österreich kennen. Man kommt sich -- wenn auch nicht sehr romantisch -- näher und landet unter einer Ulme auf dem Oberwiesenfeld. Das vereinbarte Treffen am nächsten Tag findet nicht mehr statt… Ulrich Tukur liest diese unsentimentale Erzählung, in der es um Arbeitslosigkeit, Prostitution und Hunger geht, in der ein „gut gebautes“ Mädchen, das sich mit Männern auskennt, auf eitle, dumme Männer trifft. Der Schauspieler, Musiker und Sänger hat sich mittlerweile auch einen Namen als ausgezeichneter Hörbuchsprecher gemacht. Seine helle, offene Stimme ist ideal für die hier häufig eingesetzte indirekte Rede, in der die Figuren sich darstellen. Lakonisch, fast gleichgültig ist sie das Pendant zu der illusionslosen, direkten Sprache. Ödön von Horváth (1901-1938) wurde durch seine Dramen berühmt. Er sah sich als Chronist seiner Zeit und stellte in der Tradition des Volksstücks vor allem das Kleinbürgertum dar. Dabei deckte er schonungslos die wahren Motive, die Lügen auf und schilderte die Welt, wie sie ist. Der in Ungarn als Sohn eines Diplomaten geborene Schriftsteller lebte in Berlin, Wien, Murnau und Paris, wo er von einem herabstürzenden Ast erschlagen wurde. Die messerscharf gezeichneten Porträts der Figuren, Horváth schildert nicht nur Agnes, sondern auch Eugen, Harry und den Kunstmaler, gibt der Sprecher überzeugend wider. Alles, was in ihren Köpfen gedacht wird, bringt er direkt und ohne Vermittlung zum Ausdruck. Nicht immer können die Phrasen, die sie sprechen, die eigentlichen Motive verdecken. Ulrich Tukur versteht es brillant, die für Ödön von Horváth charakteristische „Entlarvungstechnik“ zu Gehör zu bringen. Die Kritik etwa an dem dummen, reichen Amateur-Eishockeyspieler Harry oder an dem Maler klingt in seiner Stimme völlig nachvollziehbar. Es ist faszinierend, wie gut seine Vortragsweise für die ironisch gezeichneten Figuren passt. Absolute Hörvergnügen sind die Passagen, in denen er die unausgesprochenen und vor allem ungefilterten Gedanken der Agnes und des Eugen ausspricht. Etwa auf dem Oberwiesenfeld, wo Agnes drüber nachdenkt, was sie jetzt tun muss, oder am Ende, wenn Eugen über sich und Agnes als „Mistvieh“ nachdenkt. Fazit: Ulrich Tukur trifft den Ton von Ödön von Horváths nüchternem, illusionslosem Text. Er lässt die unterschiedlichen Perspektiven des Figurenensembles gnadenlos, dem unverblümten Blick des Autors entsprechend lebendig werden. Ein Hörgenuss, absolut zu empfehlen. Lesung, Spieldauer: ca. 107 Minuten, 2CDs. Mit Booklet. --culture.text, Christiane Gut Quelle:
|